Ein Meer der schwarzen Tränen


Zweiter Weltkrieg - Kreuzer 'Blücher' vor Oslo getroffen
Der deutsche Schwere Kreuzer Blücher sank am 9. April 1940 im Oslofjord. Dort liegt das Kriegsschiff noch immer in 90 Metern Tiefe. Im Jahr 1994 ließen die norwegischen Behörden etwa 1600 Tonnen Öl aus dem Wrack pumpen.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Auf dem Grund der Ozeane liegen Tausende Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg, in deren Tanks sich noch Millionen Tonnen Treibstoff befinden. Langsam zerfrisst Korrosion die Stahlhüllen der alten Schiffe.

Fotoapparate und Handys klicken. Wieder steigt ein dunkler Tropfen aus der Tiefe empor und verwandelt sich an der Wasseroberfläche in bunte Schlieren. Einige Besucher auf der Plattform mitten im Hafen von Pearl Harbor werfen Blumen ins Wasser und schweigen. Mehr als eine Million Touristen pilgern jedes Jahr zu dieser Gedenkstätte auf Hawaii: Zwölf Meter unterhalb der Plattform liegt die USS Arizona, eines der Schlachtschiffe, die am 7. Dezember 1941 beim japanischen Überfall auf Pearl Harbor gesunken sind. Seit Jahrzehnten sickern täglich Öltropfen aus dem Wrack und steigen zur Oberfläche empor. Für viele sind es die “schwarzen Tränen” der 1177 Seeleute, die damals gefallen sind.

Umweltschützer betrachten die Öltropfen weniger sentimental, sie sehen in ihnen Vorboten einer drohenden Ökokatastrophe. Mehr als zwei Millionen Liter Treibstoff befinden sich noch in den Tanks der Arizona, täglich verliert das Wrack davon ungefähr einen Liter. Die Auswirkungen auf Flora und Fauna sind bisher minimal. Aber das Wrack korrodiert und könnte bald bersten – dann würde das gesamte Hafengebiet verseucht. Das Problem ist bekannt, doch eine Lösung nicht in Sicht. Das Schiff ist ein Kriegsgrab, eines der wichtigsten US-Denkmäler und deshalb für viele unantastbar. Eine gefährliche Pattsituation zwischen historischer Pietät und ökologischem Zukunftsbewusstsein.

Die USS Arizona ist lediglich eines von beängstigend vielen Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg, die schwarze Tränen in den Ozean vergießen. Im Jahr 2004 wurde anlässlich der “International Oil Spill Conference” ein Expertenteam beauftragt, das herausfinden sollte, wie viele Schiffswracks sich in den Meeren befinden und wie viel Öl darin noch gebunkert sein könnte. Das Ergebnis war besorgniserregend: 8569 potenziell umweltgefährdende Großschiffwracks liegen in den Tiefen der Ozeane. Bei konservativer Schätzung könnten noch 2,5 Millionen Tonnen Treibstoff, Rohöl und Schiffsdiesel in den rostigen Schiffshüllen gefangen sein, im schlimmsten Fall sogar bis zu 20,4 Millionen Tonnen.

Drei Viertel dieser Schiffsleichen stammen aus dem Zweiten Weltkrieg – exakt 6338 Wracks, verteilt über alle Weltmeere, entlang der wichtigsten Handelsrouten, vor Häfen und den Orten großer Seeschlachten. Das in ihnen gelagerte Öl entspricht fast dem 400-Fachen dessen, was 1989 aus der Exxon Valdez auslief – einer der schlimmsten Ölkatastrophen.

Als die beunruhigenden Zahlen vor mehr als zwölf Jahren auf der Konferenz veröffentlicht wurde, war die Reaktion der Behörden und Wissenschaftler eine Melange aus Ungläubigkeit und Fatalismus, erinnert sich die an der Studie beteiligte Biologin Dagmar Schmidt Etkin: “Das Problem sei einfach zu groß, war die weitverbreitete Meinung. Das Thema wird deshalb in den USA, aber auch in anderen Ländern totgeschwiegen.” Ein gefährliches Spiel auf Zeit angesichts der Ölmengen, die noch in den Schiffen gefangen sind – und die Betonung liegt auf “noch”.

Plötzlich tauchte vor der Küste von New Jersey ein riesiger Ölteppich auf

Die Korrosion wird von vielen Faktoren beeinflusst: Wassertiefe, Temperatur, Salzgehalt, Strömung. Bei jedem Wrack verläuft der Prozess individuell, doch aufzuhalten ist er nicht. Die Stahlplatten büßen zwischen 0,5 und zwei Millimeter Stärke pro Jahrzehnt ein. “Was nach wenig klingt, summiert sich mit der Zeit. Verlieren die Stahlplatten drei bis zehn Millimeter ihrer Dicke, werden sie instabil und können bereits unter leichtem Druck brechen”, sagt der australische Wissenschaftler Chris Selman. Das bedeutet, dass viele Wracks aus dem Weltkrieg jetzt in die kritische Phase eintreten oder kurz davorstehen.

Im Juli 2014 sichtete ein Überwachungsflugzeug der US Küstenwache einen Ölteppich über dem Wrack des 1942 vor North Carolina versenkten Tankers W. E. Hutton. Im August 2015 schlug das Wrack des Zerstörers USS Murphy vor der Küste von New Jersey Leck. Im Oktober 2016 registrierten Satellitenbilder Öllecks über dem vor New York versenkten Tanker Coimbra, teilweise bedeckte der Ölteppich eine Fläche von anderthalb Quadratkilometern. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Ob Schweden, Norwegen, Polen, Großbritannien, Mikronesien oder Kanada – in allen Weltmeeren schlagen Weltkrieg-Wracks Leck.

Angesichts dieser stetigen Zunahme und des fortschreitenden Alters der zerfallenden Schiffe sollten sich Behörden aktiv mit dem Problem beschäftigen. Doch das Gegenteil ist der Fall. “Man kümmert sich erst darum, wenn etwas passiert. Also, falls ein Wrack auseinanderbricht und falls ein Ölteppich auftritt, erst dann wird etwas unternommen”, sagt Dagmar Schmidt Etkin. Ölbergungsaktionen sind teuer. Jedes Wrack kann zwar mit heutiger Technik gehoben oder ausgepumpt werden. Je nach Schwierigkeitsgrad und Größe des Schiffs schwanken die Kosten und können astronomische Höhen erreichen. 1,5 Milliarden Euro verschlang das Auspumpen und Abschleppen des havarierten Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia, die bisher teuerste Bergung aller Zeiten.

Eine übel riechende, schwarze, breiige Masse, die mehr teerartiges Schweröl als Sand enthält

Niemand traut sich, präventiv Millionen zur Bekämpfung einer Umweltgefahr auszugeben, die erst in Jahren oder Jahrzehnten akut werden könnte. Doch wenn Öl aus einem Wrack austritt, werden die Kosten zur Schadensbekämpfung noch viel höher: “Es gibt Beispiele, bei denen die Kosten zum Säubern der Strände zehnmal so hoch waren, wie das Abpumpen des Öls aus dem betreffenden Wrack gekostet hätte”, sagt Dagmar Schmidt Etkin.

Wer für die entstehenden Kosten aufkommen muss, bleibt zudem meist unklar. Bei Privatschiffen müsste der damalige Eigner haften. Der ist aber 70 Jahre nach Kriegsende oft nicht mehr ausfindig zu machen. Bei Kriegsschiffen hingegen ist der Besitzstatus eindeutig. Die Wracks gehören immer noch dem Staat, unter dessen Flagge sie einst im Einsatz waren. Doch nach geltendem Recht können sich diese Länder auf höhere Gewalt berufen, schließlich sind ihre Schiffe im Krieg gesunken. Was moralisch fragwürdig klingt, bedeutet, dass die Staaten auf den Kosten sitzen bleiben, in denen die Wracks liegen.

Welche katastrophalen Auswirkungen austretendes Öl haben kann, zeigt ein deutsches Wrack in polnischen Gewässern. Im Hafen von Gdynia macht sich das Forschungsschiff Imor des Marineinstituts Danzig zum Auslaufen bereit. Das Ziel der Forscher um den Hydrologen Benedykt Hac liegt nur zwei Kilometer von den feinsandigen Naturbadestränden der polnischen Riviera entfernt, an denen jährlich mehr als zwei Millionen Urlauber ihre Ferien verbringen. Dort liegt das Wrack des fast 170 Meter langen deutschen Lazarettschiffs Stuttgart, das am 9. Oktober 1943 versenkt wurde. Die Position des Wracks geriet in Vergessenheit, bis 1999 Benedykt Hac bei einer Routineuntersuchung des Bodens der Danziger Bucht auf die Überreste der Stuttgart stieß.

Die Gefahr ist auf den ersten Blick nicht sichtbar. Sonaraufnahmen des Wracks zeigen nichts Auffälliges. Aber wenn Benedykt Hac eine Probe des Meeresbodens neben dem Wrack an die Oberfläche holt, verzieht die Mannschaft angewidert das Gesicht. Aus dem Greifer quillt eine übel riechende, schwarze, breiige Masse, die mehr teerartiges Schweröl als Sand enthält. Chemische Analysen ergaben stark erhöhte Werte für polyzyklische-aromatische Kohlenwasserstoffe. Teilweise werden die Grenzwerte des polnischen Umweltministeriums um das 1000-Fache überschritten.

Das Wrack des ehemaligen Lazarettschiffs “Stuttgart” liegt vor herrlichen Badestränden

Recherchen von Benedykt Hac ergaben, dass über die Jahre bis zu 1000 Tonnen Schweröl aus der Stuttgart in den Meeresgrund geflossen sein müssen. Unzählige Bodenproben hat er in den vergangenen 17 Jahren gezogen, um das Ausmaß der Verschmutzung zu dokumentieren. Eine Fläche von mehr als 50 Fußballfeldern ist betroffen. 450 000 Kubikmeter verseuchter Meeresboden müssten entsorgt werden. Kostenpunkt 20 bis 100 Millionen Euro. Doch angesichts der abwartenden Haltung der polnischen Behörden glaubt Benedykt Hac nicht daran, dass bald etwas unternommen wird: “Denen bin ich ein Dorn im Auge. Ich sage ihnen: ‘Da und da ist es verschmutzt.’ Und die sagen: ‘Ach, da ist nichts! Nur du weißt davon. Das sieht doch keiner. Lass es einfach liegen!'”

Nur ein Land auf der Welt will nicht warten, bis etwas passiert – Norwegen. Im Zweiten Weltkrieg war das Land mit seiner Küstenlinie von mehr als 20 000 Kilometern umkämpfter strategischer Brückenkopf. Mehr als 900 Schiffe sanken dort zwischen 1939 und 1945. Davon hat die norwegische Küstenbehörde Kystverket 29 als “extrem gefährlich” für die Umwelt eingestuft.

Bereits 1994 wurde im Oslofjord das Öl aus dem deutschen Schweren Kreuzer Blücher abgepumpt. Schon nach dessen Versenkung im April 1940 traten immer wieder Öllachen über der Unglücksstelle auf. Anwohner berichteten regelmäßig von bestialischem Schiffsdieselgeruch. Um einer drohenden Katastrophe vorzubeugen, wurden mehr als 1000 Tonnen Treibstoff aus dem Wrack geborgen. Der Startschuss für ein ambitioniertes und weit mehr als 100 Millionen Euro teures Bergungsprogramm. Seitdem sind sieben weitere Wracks präventiv ausgepumpt worden. Denn die Zeit drängt, wie Hans Petter Mortensholm von Kystverket mit sorgenvoller Miene betont: “In zehn oder 20 Jahren könnte es unmöglich sein, noch Operationen dieser Art an den Wracks durchzuführen!” Noch sind die Stahlwände der meisten Wracks stabil genug, um Zugänge zu den Öltanks zu fräsen und Ventile für ein kontrolliertes Abpumpen zu installieren. In naher Zukunft würden die Wracks bei solchen Manövern aufgrund der Korrosion auseinanderbrechen und das Öl unkontrolliert an die See abgeben.

Alle Küstenländer der Welt stecken mitten in diesem Wettlauf gegen die Zeit. Die Tür schließt sich langsam, aktiv das Problem der rostenden, alten Wracks aus dem Zweiten Weltkrieg anzugehen. Noch hat es jeder Staat selbst in der Hand, wie er auf das drängende Problem reagiert. Aussitzen und abwartender Fatalismus wären die schlechtesten aller Handlungsoptionen. Denn letztlich ist es keine Frage, ob diese Wracks Leck schlagen werden, sondern nur wann und wie viel Öl auslaufen wird. Es passiert bereits tagtäglich – und in Zukunft werden immer mehr Wracks “schwarze Tränen” vergießen.

Süddeutsche Zeitung